10.01 2023

Digitalisierung und Nachhaltigkeit – die Transformationen zusammendenken

„Das ist das neue Deutschlandtempo“, hat Bundeskanzler Olaf Scholz verkündet, als im Dezember nach rekordverdächtiger Umsetzungszeit das erste Flüssiggasterminal vor Wilhelmshaven in Betrieb genommen wurde. Diesen Satz darf man sich auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht stimmt er ja für die Zukunft, schön wär’s. Die Erfahrung lehrt allerdings anderes: Hohe Geschwindigkeiten bei Reformen und Innovationen sind bislang nicht unbedingt Deutschlands Stärke.

Insbesondere in der digitalen Transformation kommt unser Land erwiesenermaßen nicht schnell genug voran. Im „Digital Economy and Society Index“ (DESI) wird Deutschland unter allen europäischen Staaten auf Platz 13 eingestuft. Berücksichtigt werden in der Untersuchung die allgemeine Konnektivität, digitale Kompetenzen, die Internetnutzung durch Privatpersonen, die Integration digitaler Technik durch Unternehmen und digitale öffentliche Dienste. Dieser umfassende Innovationsstau ist doppelt misslich. Zum einen benötigt die Wirtschaft digitale Infrastrukturen und Fähigkeiten, um sich resilient und wettbewerbsfähig für Morgen aufzustellen. Zum anderen ist die Digitalisierung untrennbar mit dem potenziellen Fortschritt in Nachhaltigkeit und Klimaschutz verknüpft.

Eine digitalisierte Kreislaufwirtschaft und ein intelligenter Einsatz von Ressourcen und Energie sind in unserer komplexen Welt ohne Vernetzung und digitale Zwillinge, Analytics und Künstliche Intelligenz (KI) nicht zu realisieren. Glücklicherweise beweisen viele, vornehmlich mittelständische Unternehmen, dass in ihrem Verantwortungsbereich funktioniert, was auf nationaler Ebene noch stockt. Zahlreiche Umfragen zeigen, wie sie die digitalen und grünen Transformationen zunehmend miteinander verbinden. Beispielsweise haben viele Unternehmen erkannt, dass sie der neuen Nachhaltigkeitsberichterstattung (Non-Financial Reporting Directive/Corporate Sustainability Reporting Directive) nur auf Grundlage von automatisierten Messpunkten und digital erfassten Daten gerecht werden können. Mit gutem Grund: Wer in diesem Bereich zögert, wird seine Organisation in den kommenden Jahren gehörig unter Druck setzen, um regulatorische Vorgaben oder sich wandelnde Kundenbedürfnisse im Hinblick auf Nachhaltigkeit bedienen zu können.

In diesem Kontext ist auch der mögliche Beitrag von Start-ups nicht zu unterschätzen. Aus der deutschen Gründerszene kommen mittlerweile extrem smarte Lösungen für nachhaltiges Handeln in Logistik und Produktion, die es wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Kürzlich habe ich Gründer:innen interviewt, die sich mit grünem Wasserstoff, digitalen Zwillingen in der Logistik und induktiven Ladevorrichtungen für autonome Roboter befassen. Ich bin immer wieder verblüfft, wie groß das Potenzial für Kooperation und Kollaboration zwischen Mittelstand und Start-ups im Umweltbereich ist.

Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsinitiativen integrieren – das bleibt einer der vielversprechendsten Pfade auf dem Weg zur Dekarbonisierung Deutschlands. Damit verbunden ist eine umfassende, strategische Herausforderung: Vor den Unternehmen breitet sich ein komplett neues Wettbewerbsumfeld aus, dessen Spielregeln im Sinne der ESG-Ziele (Environment, Social and Governance) neu geschrieben werden. Nachhaltigkeit ist keine weitere Disruption, auf die die Unternehmen reagieren müssen, sondern längst die neue Normalität. Als Folge werden die Nachhaltigkeits-, Digitalisierungs- und Unternehmensstrategien der Betriebe unweigerlich miteinander verschmelzen.

Hier liegt ein Handlungsfeld für die Unternehmen verborgen, das sich als wirksamer Tempomacher für das Umwelt- und Klimaengagement der Wirtschaft erweisen kann. Die Kompetenzbereiche für Digitalisierung und Nachhaltigkeit – das zeigen nicht nur Studien, das erfahren wir ebenso in unserer Beratungspraxis immer wieder – werden zwar gestärkt und entsprechende Stabsstellen und Teams aufgebaut. Aber sie scheinen bislang nur unzureichend vernetzt und koordiniert zu werden. Wem es gelingt, solche Silos aufzubrechen und die Synergien seiner Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsvorhaben zu heben, wird seine Umweltziele mit einiger Wahrscheinlichkeit schneller und effizienter erreichen – mit Mittelstands-Speed statt im trägen Deutschlandtempo.

 

Über den Autor

Dr. Thomas M. Fischer ist Gründer und CEO der Allfoye Managementberatung, Mitglied im Aufsichtsrat der Bauer Gruppe, Chairman des Institute for Leadership & Transformation sowie Startup-Gründer, Coach und Investor. Seine Expertise liegt auf dem Gebiet von Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsstrategien für den Mittelstand, deren Umsetzung seiner Erfahrung nach nur über einen Kulturwandel zum Erfolg führen kann.

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